21.11.2022

Dem DFB sind Tore wichtiger als Werte – nicht erst in Katar

Stellen wir uns vor, der englische Kapitän Harry Kane hätte heute beim Spiel seiner Mannschaft gegen Iran die „One Love“-Binde getragen - und dafür noch vor dem Anstoß eine gelbe Karte kassiert. Stellen wir uns vor, Manuel Neuer hätte es ihm am Mittwoch beim Spiel Deutschland gegen Japan gleichgetan. Und in beiden Fällen hätten die Mannschaften nach „Gelb“ für den Kapitän aus Protest das Spielfeld verlassen.

Da hätten die kanarischen Herrscher und ihr inoffizieller Propagandaminister Gianni Infantino nicht schlecht gestaunt. Die „größten Show aller Zeiten“, wie der FIFA-Boss die WM nennt, wäre praktisch zu Ende gewesen, noch ehe sie richtig begonnen hatte. Denn eine WM ohne die besten europäischen Teams wäre für die FIFA die größte Blamage aller Zeiten – und für Katar ebenso.

Debatte um „One Love“-Binde: In Russland kam niemand auf Protest-Idee

Nun kann man unterschiedlicher Meinung sein, ob es Sache der Fußballer ist, mit einer buten Phantasiebinde die Politik aufs Spielfeld zu tragen - als Zeichen gegen jegliche Form der Diskriminierung, sei es wegen des Geschlechts oder der Religion, wegen der sexuellen Orientierung oder aus politischen Gründen. Nicht zuletzt auch als Protest gegen die Lage von Frauen, Homosexuellen und Arbeitsmigranten im Gastgeberland. Bei der WM vor vier Jahren in Russland kam beim DFB übrigens niemand auf die Idee, auf die systematischen Menschenrechtsverletzungen in Putins Reich hinzuweisen.

Allerdings kann man nicht darüber streiten, dass alle teilnehmenden Nationen wussten, welche Regeln der FIFA bei dieser WM gelten. Deren Vorschriften sind in diesem Punkt eindeutig: Es muss die vom Verband bereitgestellte Kapitänsbinde getragen werden. Die FIFA wiederum hat das Recht, Verstöße zu ahnden – mit Geldstrafen, gelben Karten oder gar einem Punkteabzug. So sind die Regeln. Schluss, Aus, Ende.

DFB hat sich für den Sport entschieden

In diesem Streit um die Binde hatte sich der DFB ebenso wie andere europäische Verbände zu entscheiden zwischen Politik und Sport. Er hat sich für Letzteres entschieden - und das aus guten Gründen. Das Risiko, dass Neuer nach der zweiten gelben Karte wegen der falschen Binde für ein Spiel gesperrt würde oder gar wegen der Binde plus eines schweren Fouls mit Gelb-Rot vom Platz geflogen wäre, war aus sportlichen Gründen zu groß.

Man kann von einem Sportverband zudem nicht erwarten, dass er in Sachen Menschenrechte mehr Rückgrat zeigt als die eigene Regierung. Der tiefe Bückling des grünen Wirtschaftsministers Robert Habeck vor den Gas-Scheichs zeigte deutlich, welche Prioritäten Berlin verfolgt: Erst kommt die Energie, dann die Moral. Was verständlich ist: Wenn wir Öl und Gas ausschließlich aus Demokratien westlicher Prägung beziehen wollten, wäre Deutschland wirtschaftlich am Ende.

Weichen schon vor Jahren falsch gestellt

Bei dieser WM zeigt sich eben: Sind die Weichen erst einmal falsch gestellt, kann der Zug nicht kurz vor der Endstation mal schnell in eine andere Richtung abbiegen. Der Fehler der WM-Vergabe an Katar lässt sich im Nachhinein nicht mehr ausbügeln. Auch kann nicht überraschen, dass die in erster Linie aufs Geld erpichten FIFA-Funktionäre sich als willige Helfer des autokratischen, die Menschenrechte mit Füßen tretenden Regimes in Doha erweisen. Dass denen eine Binde, die als Symbol für Vielfalt stehen soll, nicht behagt hätte, liegt auf der Hand.

Der DFB mit seinem Präsidenten Bernd Neuendorf hatte im Vorfeld der WM zu Recht auf die menschenunwürdige Lage der Arbeitsmigranten in Katar hingewiesen und von der FIFA verlangt, die Familien der bei den Bauarbeiten zu Tode gekommenen Arbeiter zu entschädigen. Doch beim Thema Binde musste Neuendorf jetzt zugegeben, dass der DFB als weltweit größter Fußballverband gegen die FIFA-Spitze keine Chance hat: „Es handelt sich um eine Machtdemonstration der FIFA“, kommentierte er diesen „frustrierenden, beispiellosen“ Vorfall.

Für politischen Protest ist es jetzt zu spät

Beim Thema Katar kann der DFB ohnehin seine Hände nicht in Unschuld waschen. In früheren Zeiten hatten die deutschen Fußballfunktionäre an der Menschenrechtslage im WM-Land Katar kein Interesse gezeigt. Franz Beckenbauer hatte sogar gespottet, er habe dort „keine Sklaven in Ketten“ gesehen. Deutschlands Renommierclub Bayern München wiederum kassiert liebend gerne die Sponsorengelder aus dem Emirat. Und ob Beckenbauer 2010 für Katar gestimmt hat oder nicht, behält der „Kaiser“ bis heute für sich. Er wird wissen, warum.

Der DFB hat sich sehr spät entschlossen, die Menschenrechtslage in Katar kritisch zu sehen. Es klingt deshalb nach falschem Pathos, wenn DFB-Direktor Oliver Bierhoff jetzt davon spricht, man könne der deutschen Nationalmannschaft die Binde wegnehmen, „aber nicht unsere Werte“. Denn diese Werte haben Deutschlands Fußballfunktionäre erst in letzter Minute entdeckt. Doch wer so spät kommt, den bestraft eben der allmächtige Infantino.

Nun sollte man einer Organisation wie dem DFB eine gewisse Lernfähigkeit nicht absprechen. Wenn die deutschen Fußball-Oberen wirklich für „unsere Werte“ auch innerhalb der FIFA eintreten wollen, dann müssen sie sich mit anderen, ähnlich eingestellten Verbänden verbünden. Für „Katar2022“ ist es für politischen Protest jedenfalls zu spät.

Aber nach dem Spiel ist bekanntlich vor dem Spiel. Die nächste WM findet 2026 in Kanada, Mexiko und den USA statt. Wenn die deutschen Fußballer zusammen mit Mannschaften aus anderen Ländern dort symbolisch für Vielfalt eintreten wollen, sollten sie das die FIFA recht bald wissen lassen. Und lange vor dem ersten Spiel sagen, was für den DFB letztlich Priorität hat: Werte oder Tore.

(Veröffentlicht auf www.focus.de am 21. November 2022)


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