07.06.2024

Protestwahl gegen die demokratische Mitte

In Brüssel und Straßburg fallen Entscheidungen, die unser Leben bisweilen stärker beeinflussen als manches, was im Bundestag beschlossen wird. Doch halten laut Forsa nur 24 Prozent der Deutschen die Europawahl für wichtig. Denn ihr Ergebnis beeinflusst die europäische Politik eher auf verschlungenen, vom Wähler nur schwer durchschaubaren Wegen.

Gleichwohl kann das nationale Ergebnis parteipolitische Erschütterungen auslösen. Als die SPD vor fünf Jahren von 27,3 Prozent auf 15,8 Prozent abstürzte, war das Schicksal der ohnehin glücklos agierenden und innerparteilich umstrittenen Partei- und Fraktionsvorsitzenden Andrea Nahles besiegelt. Sie gab ihre politischen Ämter wenige Tage später ab, stieg ganz aus der Politik aus.

Bei der CDU/CSU schrillten ebenfalls die Alarmglocken, als ihr Stimmenanteil deutlich von 35,4 Prozent auf 28,9 Prozent zurückging. Es war seit Jahrzehnten das erste Unionsergebnis auf Bundesebene unterhalb von 30 Prozent. Angela Merkel hatte da den CDU-Vorsitz bereits abgegeben. Aber ihrer seit Ende 2018 amtierenden Nachfolgerin Annegret Kramp-Karrenbauer war es nicht gelungen, die unter den Folgen von Merkels Politik leidende Partei neu auszurichten.

Auf die Grünen wirkte ihr starkes Ergebnis - 20,5 nach 10,7 Prozent - dagegen wie ein Aufputschmittel. Zum ersten Mal hatte die Öko-Partei die SPD im Bund überholt, war jetzt zweitstärkste Partei. So wähnte man sich auf dem Weg zur Volkspartei und begann von einer grünen Kanzlerin zu träumen. Die meisten Medien - allen voran die öffentlich-rechtlichen - schwärmten von einem tiefgreifenden parteipolitischen Umbruch.

Die Grünen sind nach der AfD die unbeliebteste Partei

Fünf Jahre später müssen die Grünen dagegen damit rechnen, wieder auf Normalmaß zurechtgestutzt zu werden. Die Demoskopen sagen ihnen 13 bis 15 Prozent voraus, also deutlich weniger. Nach gut zweieinhalb Jahren in der Bundesregierung sind Robert Habeck, Annalena Baerbock und ihre Mitstreiter entzaubert. Schlimmer noch: Die Grünen sind nach der in Teilen rechtsextremen AfD die unbeliebteste Partei. Selbst die Linke stößt bei Potentialanalysen („Welche Partei werden Sie auf keinen Fall wählen?“) nicht auf so viel Ablehnung wie die Öko-Partei.

CDU/CSU und SPD drohen den Umfragen zufolge keine Einbußen wie 2019. Doch könnte die Sozialdemokraten sogar noch unter den 15,8 Prozent von Andrea Nahles bleiben. Das wäre für Bundeskanzler Olaf Scholz doppelt peinlich. Schließlich bedeute das eine glattes „Ungenügend“ für seine Regierungspolitik. Zudem könnte Scholz das schlechte Ergebnis nicht auf die kaum bekannte deutsche Spitzenkandidatin Katarina Barley schieben. Denn seit Wochen plakatiert die SPD Scholz gerade so, als kandidiere er selbst fürs Europäische Parlament.

Sollte die SPD bei 14 oder 15 Prozent landen, entspräche das einem Absturz gegenüber der Bundestagswahl um mehr als 40 Prozent. Das Kalkül der Sozialdemokraten, Scholz als „Friedenskanzler“ zu präsentieren, ist offensichtlich nicht aufgegangen. Die Enttäuschung vieler Wähler über die von Scholz mehr verwaltete als geführte Ampel-Koalition ist für Scholz‘ Stellung in der SPD nicht unmittelbar gefährlich. Doch wird ein so schlechtes Abschneiden - womöglich sogar noch Kopf an Kopf mit der AfD - denjenigen Auftrieb geben, die Scholz 2025 keinen Wahlsieg mehr zutrauen. Die Rufe nach einem Kanzlerkandidaten Boris Pistorius könnten lauter werden.

Im Vergleich zu Scholz kann Oppositionsführer Friedrich Merz der Europawahl entspannter entgegensehen. Falls die CDU/CSU um die 30 Prozent erreicht, kann er darauf verweisen, dass die Union die mit Abstand stärkste Partei ist und bleibt. Merz wird dann auch die 30 oder 31 Prozent mit den 24,1 Prozent bei der Bundestagswahl 2021 vergleichen. Merz erinnert ohnehin gerne daran, dass die Union im Januar 2022, als er den Parteivorsitz übernahm, bei 22 Prozent stand. Alles über den 28,9 Prozent von 2019 lässt sich da als Erfolg verkaufen.

Allerdings dürfte Merz sich von der Europawahl mehr versprochen haben als nur eine Bestätigung oder leichte Verbesserung des Ergebnisses von 2019. Zur Erinnerung: Die erste Landtagswahl unter dem CDU-Vorsitzenden Merz ging im März 2022 gründlich schief. An der Saar flog die CDU aus der Regierung, was Merz indes allenfalls als kleinen Dämpfer gewertet sehen wollte. Den Neuaufbau der CDU nach dem 2021er-Debakel verglich Merz damals mit einem „Marathonlauf“. Das Ziel sei vor allem die Europawahl 2024. „Darauf richten wir auch unsere strategisch-inhaltliche Arbeit aus.“ Da wären 29 oder 30 Prozent am Sonntag nicht gerade eine glänzende Bestätigung der eigenen Strategie.

Die AfD kann mit 15 Prozent rechnen, die Wagenknecht-Partei mit 6 und die Linke mit 3 Prozent Bei den Ampel-Parteien werden sie sich bereits darauf vorbereiten, die zu erwartenden Wahlergebnisse am Sonntagabend schönzureden. Auch die FDP wird übrigens eher unter den 5,4 Prozent von 2019 bleiben als sich zu verbessern. Die CDU/CSU wird hingegen unablässig betonen, dass sie die Nummer eins ist - wenn auch nur auf dem Niveau von Merkel & Kramp-Karrenbauer.

Die Ampel-Parteien wie die oppositionelle CDU/CSU werden sich dagegen schwertun, die anhaltende, ja zunehmende Attraktivität radikaler Parteien zu erklären. Vor fünf Jahren kamen AfD und die Linke zusammen auf 16,5 Prozent. Jetzt kann die AfD mit 15 Prozent rechnen, die neue Wagenknecht-Partei mit 6 und die Linke mit 3 Prozent. Das entspräche einem Anwachsen der Ränder auf 24 Prozent. So gesehen wird die Entscheidung am Sonntag zur Protestwahl – zum Protest gegen die demokratische Mitte.

(Veröffentlicht auf www.cicero.de 7. Juni 2024)


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