09.04.2014 | SPIEGEL ONLINE

Zehn Prozent Frust, mindestens

Nach 25 Minuten ist alles vorbei. Rainer Brüderle, Ex-Spitzenkandidat der FDP, steht auf, geht hinunter zu den TV-Kameras. So schnell ist im politischen Berlin noch nie ein Buch vorgestellt worden. Brüderle und der "Bild"-Kolumnist Hugo Müller-Vogg, der in dem Band die Fragen gestellt hat, wirken ein wenig überrascht. Aber sie sind beide Profis und lassen sich nichts anmerken. 

150 Seiten umfasst "Jetzt rede ich", und tatsächlich erzählt Brüderle allerhand aus dem Innenleben der FDP. Der eigentliche Kern aber sind die Folgen eines denkwürdigen Abends an einer Hotelbar - und der spätere "Stern"-Artikel darüber. Denn aus Sicht der Reporterin soll Brüderle an diesem Abend einige anzügliche Bemerkungen gemacht haben. 

Das Ergebnis ist bekannt - der damalige FDP-Fraktionschef und Spitzenkandidat Brüderle wurde zum Gespött der Öffentlichkeit, an seinem Verhalten entbrannte eine landesweite Debatte über Sexismus. Nur ein Kapitel, also zehn Prozent des Bandes, handelten von dem, "was ich mal die 'Stern'-Affäre nennen will", verteidigt sich Brüderle. Ein Buch allein dazu, "das hätte ich nicht gemacht". 

Und doch: Dieser Artikel wirkt nach, das ist an diesem Nachmittag deutlich zu spüren. Unvermittelt sagt Brüderle, der "Stern" widme diese Woche seinem Buch eine Seite - das sei "gute Werbung", er bedanke sich dafür. Es klingt sarkastisch. Dann tadelt er den Chefredakteur: Der habe sein Buch bewertet, obwohl er es noch gar nicht habe kennen können.

Und wie sieht er sich? "Ich fühle mich nicht als Opfer", sagt er, "aber unfair behandelt." 

Der Saal ist voll. Volker Kauder, der Unions-Fraktionschef ist gekommen, er sitzt in der ersten Reihe. Gregor Gysi, der Fraktionschef der Linken, spricht sogar die einleitenden Worte. Das "Büchlein" sei ja "sehr schnell geschrieben", er hätte eigentlich eine "dicke Biografie" erwartet. Aber: "Ich verstehe das, da war so viel Frust, das musste einfach raus", sagt er, und die Journalisten lachen. Selbst Brüderle lächelt ein wenig gequält mit. 

Gysi laviert sich durch. Dass es nach dem Erscheinen des "Stern"-Artikels im Frühjahr 2013 eine Debatte über Sexismus gab, wie Männer mit Frauen umgehen, das nennt Gysi, der einmal als Wirtschaftssenator in Berlin auch für Frauenpolitik zuständig war, "berechtigt". Er gebe Brüderle aber recht, wenn dieser von einer Kampagne spreche - das liege nicht an der Journalistin, sondern an der "Zeitung", wie Gysi den "Stern" nennt, die schließlich ein Jahr mit der Geschichte gewartet habe, bevor diese sie gebracht habe. "Das kann ich nicht mögen", sagt Gysi. Schließlich sei die Reporterin ja auch nach dem Vorfall an der Bar mit Brüderle gemeinsam im Auto unterwegs gewesen, wie der Leser im Buch erfahre. "Sie scheint", sagt Gysi, "keine Angst vor ihm gehabt zu haben." 

Der Linken-Fraktionschef nutzt seinen Kurzauftritt auch, um über den Niedergang des Liberalismus zu räsonieren. Und sich um dessen Zukunft Sorgen zu machen. "Gerade wir in Deutschland brauchen libertäres Gedankengut", sagt er. Er sei sich aber nicht sicher, "ob es die FDP schafft". Die FDP habe unter Graf Lambsdorff den politischen Liberalismus zugunsten des Wirtschaftsliberalismus zurückgefahren. Im "neoliberalen Zeitalter" habe man damit 14,8 Prozent erreichen können, als dieses zu Ende gewesen sei, nur noch 4,8 Prozent. (…)

Quelle: Spiegel-online vom 9. April 2014