15.03.2023

Wahlrechtsreform: Blutgrätsche der Ampel gegen Linke und CSU

Beim Fußball würde man sagen: In der Schlussphase versuchten es die Mannschaft in den rot-grün-gelben Trikots mit der Brechstange. Die Ampel-Parteien wollen jedenfalls keine längere Wahlrechtsdiskussion. Noch in dieser Woche soll das neue Wahlrecht beschlossen werden. Und zwar mit der Brechstange, nämlich gegen die größte Oppositionspartei. Dass die AfD von den Reformplänen begeistert ist, versteht sich von selbst. Schließlich war sie schon vor längerer Zeit auf die mehr oder wenigen selben Ideen wie SPD, Grüne und FDP gekommen und spricht stolz von einem „abgekupferten“ Entwurf.

Das Ampel-Team geht nicht nur mit der Brechstange vor; es scheut auch vor einer sehr harten Gangart nicht zurück. Dank ihrer robusten Spielweise könnte dem nächsten Bundestag keine Linksfraktion mehr angehören. Das hat – Stand heute – in erster Linie mit der Schwäche der Linken zu tun. Aber auch mit der Strategie der Ampel: Künftig soll sich keine Partei mehr dank dreier Direktmandate im Bundestag wiederfinden. Bleibt die eigene Partei unter 5,0 Prozent der Zweitstimmen, gehen auch ihre Wahlkreissieger leer aus.

Damit setzen SPD, Grüne und FDP gegenüber der CSU zur Blutgrätsche an. Nach dem aktuellen Entwurf könnte die CSU theoretisch alle 46 bayerischen Wahlkreise gewinnen – und dennoch mit keinem einzigen Abgeordneten unter der Reichstagskuppel vertreten sein. Das wäre dann der Fall, wenn die für die CSU abgegebenen Zweitstimmen – umgerechnet auf den Bund – nur 4,9 Prozent entsprächen. 2021 war die Bayern-Union 5,2 Prozent der Fünf-Prozent-Hürde schon sehr nahe, trotz ihrer 37 Prozent im Freistaat.

Dessen ungeachtet ist der Grundgedanke der von der Ampel geplanten Reform ist ebenso richtig wie löblich: Der durch 34 Überhang- und 104 Ausgleichsmandate von 598 auf 736 Sitze aufgeblähte Bundestag soll verkleinert werden. Nach neuestem Stand wird es eine Obergrenze von 630 Mandaten geben. Davon entfallen 299 auf Direktmandate in Wahlkreisen und 331 auf Landeslisten. Überhangmandate gibt es keine mehr, was auch den Wegfall der Ausgleichsmandate nach sich zieht.

Grotesk: Wahlkreissieger werden zu Verlierern

So weit, so einleuchtend. Allerdings lässt sich mit keinem noch so ausgeklügelten Gesetz ausschließen, dass eine Partei mehr Direktmandate gewinnt, als ihr nach den gewonnenen Zweitstimmen zugestanden hätten. Das war 2021 der Fall, als die CDU (12), die CSU (11), die SPD (10) und die AfD (1) mehr Sitze direkt eroberten, als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis zustanden. Diese 34 „Überhänge“ führten zu 104 zusätzlichen Mandaten, den sogenannten Ausgleichsmandate. Deshalb sitzen im Bundestag 736 Abgeordnete und nicht nur 598, wie es nach dem Wahlrecht eigentlich der Fall sein sollte.

Die Ampel-Methode zur Parlamentsverkleinerung ist wirkungsvoll, aber grotesk. Demnach sollen den Parteien aufgrund der jeweiligen Zweitstimmenanteile die Sitze zugeteilt werden – wie bisher. Wer im Wahlkreis die meisten Stimmen erhalten hat, nach landläufiger Ansicht also ein direktgewählter Abgeordneter, kommt nicht mehr automatisch nach Berlin. Um das am Beispiel der CSU zu verdeutlichen: Auf der Basis des Wahlergebnisses von 2021 gingen nach dem neuen Modell sieben CSU-Wahlkreissieger mit Überhangmandat leer aus, nämlich die mit den prozentual schlechtesten Erststimmenergebnissen. Das träfe überwiegend Wahlkreissieger aus Städten mit CSU-Erststimmenanteilen zwischen 25 und gut 30 Prozent. Diese Wahlkreise sind wegen des hohen Anteils von Grünen-Wählern besonders umkämpft. Und siehe da: In sechs der sieben bisherigen CSU-Wahlkreise zögen die unterlegenen Grünen-Bewerber in den Bundestag ein.

Den CSU-Wählern in diesen Kreisen zu erklären, ihr Abgeordneter habe zwar den Wahlkreis gewonnen, sei aber dennoch ein Verlierer, dürfte schwer werden. Noch unverständlicher wird es allerdings, wenn dieselben Wähler dann in der Zeitung lesen, dass der FDP-Kandidat mit 6 Prozent Erststimmen künftig in Berlin sitzen wird, weil er auf der Landesliste gut platziert war. Da werden sich viele Wähler verschaukelt vorkommen. Wenn man Politikverdrossenheit fördern will, dann ist ein möglichst unlogisches Wahlsystem ein wirkungsvoller Beitrag.

Grüne profitieren am meisten

In diesem Reformvorschlag spiegeln sich – oh Wunder – die Interessen der regierenden Parteien wider. Die FDP hat keinerlei Aussicht auf ein Direktmandat und folglich auch nicht auf Überhangmandate. Sie will sich als Reformer profilieren. Die Grünen konnten bei der Bundestagswal 2021 zwar erstmals 16 Wahlkreise erobern. Das waren aber zu wenige, um einen „Überhang“ zu generieren. Jedes grüne Direktmandat wurde nämlich – vereinfacht gesagt – mit einem Listenmandat verrechnet.

Nach dem neuen Wahlrecht können die Grünen jedoch mit deutlich mehr Direktmandaten rechnen. In Bayern und auch in Baden-Württemberg kämen viele Unionspolitiker mit den meisten Stimmen nicht ins Parlament, wenn sie im Vergleich zu anderen Kandidaten ihrer Partei den Wahlkreis mit einem relativ niedrigen Prozentsatz gewinnen. Dann würde das „Direktmandat“ an den Zweitplatzierten fallen. Das käme vor allem in Großstädten und Kommunen mit vielen Studenten den Grünen zugute. Würde die Union in Großstädten reihenweise keinen MdB mehr haben, würde das den Einfluss von CDU und CSU in diesen Kommunen verringern. Aus grüner Sicht zweifellos ein „Kollateralnutzen“ der Reform.

Bei der SPD ist die Lage anders. In ihren Reihen sitzen auch Wahlkreisgewinner aus großen Städten mit Überhangmandat und relativ niedrigem Prozentsatz an Erststimmen. Deshalb gab es manchen Unmut in der SPD-Bundestagsfraktion. Folglich haben sich die rot-grün-gelben Wahlrechtsexperten etwas einfallen lassen, um etwaige Abweichler in den eigenen Reihen zu beruhigen. So wird die Zahl der über die Listen gewählten Abgeordneten von 299 auf 331 erhöht. Das bedeutet: Die Zahl möglicher Überhangmandate reduziert sich. Am Strukturfehler der Reform ändert das freilich nichts: Eine Reihe von „gewählten“ Kandidaten dürfen nicht in den Bundestag, während „Verlierer“ aus dem Wahlkreis über die Liste das Ticket nach Berlin erhalten.

Die Ampel-Fraktionen hatten versucht, die CDU/CSU-Opposition für ihre Reform ins Boot zu bekommen. Allerdings ist die Union aus nachvollziehbaren Gründen nicht gewillt, einem Gesetz zuzustimmen, das die Zahl der CSU-Abgeordneten überproportional reduziert und zweitplatzierten Grünen zu „Direktmandaten“ verhilft. Der Versuch, die Linkspartei zum Mitmachen zu bewegen, ging ebenfalls schief. Deshalb folgt die Strafe auf dem Fuß. Die Ampel will nämlich die Grundmandatsklausel streichen. Das bedeutet: Drei Direktmandate sollen künftig nicht mehr das Verfehlen der Fünf-Prozent-Hürde ausgleichen. Davon profitierte bei der letzten Bundestagswahl – wie schon 1994 – die Linkspartei. Obwohl sie nur 4,9 Prozent der Zweitstimmen erreicht hatte, wurde die Linke dank drei gewonnener Wahlkreis bei der Mandatszuteilung entsprechend ihres Zweitstimmenanteils berücksichtigt. Die Folge: Für drei Direktmandate gab’s 36 Mandate zusätzlich.

Grundmandatsklausel wird abgeschafft

Die Linke beklagt dies verständlicherweise als „einen Angriff auf eine gut begründete demokratische Praxis". Die Streichung der Grundmandatsklausel entspricht jedoch – unabhängig von parteipolitischen Aspekten – der Logik des Ampel-Entwurfs. Demnach soll im Wahlrecht das Prinzip der Verhältniswahl gegenüber der Personenwahl deutlich gestärkt beziehungsweise das Direktmandat abgewertet werden. Wenn Wahlkreissieger mit Überhangmandat nicht mehr zum Zug kommen, wäre es grotesk, wenn drei Direktmandate – unabhängig vom erreichten Stimmenanteil – das Zehnfache an Listenmandaten nach sich zögen.

Freilich galt seit 1949 die Regel, dass Wahlkreissieger in jedem Fall ihr Mandat wahrnehmen können, ganz gleich, ob ihre Partei mehr als 5 Prozent der Stimmen bekommt oder nicht. So saßen 2002 zwei Abgeordnete der Linken (damals noch PDS) im Bundestag, obwohl ihre Partei nur 4,0 Prozent erreicht hatte. Das soll nach den Vorstellungen der Ampel künftig nicht mehr möglich sein.

Die Ampel-Parteien hatten bisher stets versichert, an der Grundmandatsklausel festhalten zu wollen. Schließlich hat es – jenseits von rechtlich Erwägungen – stets einen fahlen Beigeschmack, wenn bei einer Reform eine Partei nebenbei erledigt wird, ganz gleich, wie man zu ihr stehen mag. Dass die Regierenden per Federstrich zwei Parteien aus dem Parlament zu verbannen versuchen, hätte man eher in Ungarn oder Polen erwartet, nicht aber in der Bundesrepublik.

Künftig könnte die CSU nicht mehr im Parlament sein

Inzwischen scheinen die Wahlrechtsstrategen der Ampel aber auf den Geschmack gekommen zu sein. Ihr ebenso brutales wie durchschaubares Kalkül: Wenn erst einmal die Zuteilung von Direktmandaten an die Fünf-Prozent-Klausel auf Bundesebene gebunden ist, könnte das ja auch die CSU treffen. Es sei denn, die CSU ginge – sicher ist sicher – mit der CDU eine Listenverbindung ein. Dass sich das mit dem Selbstverständnis der CSU nicht vertrüge, ist der Ampel bewusst – und genau deshalb setzt sie hier zur Blutgrätsche an.

Die Ampel ist angetreten, den „Bläh-Bundestag“ (BILD) zu verkleinern. Das wäre auch zu erreichen, indem man die Zahl der Wahlkreise deutlich reduziert und die der Listenmandate entsprechend erhöht. Denn je weniger Direktmandate es im Vergleich zu Listenmandaten gibt, umso geringer ist die Wahrscheinlichkeit von Überhangmandaten. Ja, dann würden manche Wahlkreise sehr groß. Das wäre jedoch eher hinzunehmen als ein System, das Kandidaten mit den meisten Stimmen einen Platz im Parlament verwehrt.

SPD, Grüne und FDP sind bewusst einen anderen Weg gegangen. Dabei haben parteipolitische Überlegungen zweifellos eine bedeutende Rolle gespielt. Das neue Wahlrecht ist bestens dazu geeignet, drei Funktionen zu erfüllen: erstens die CSU zu schrumpfen oder gar ihre parlamentarische Existenz zu gefährden, zweitens den Grünen auf Kosten von CDU und CSU zu mehr Direktmandaten zu verhelfen und drittens die Linke zu eliminieren – und das alles unter der Überschrift „Verkleinerung des Bundestags“. Kein (!) Schelm, der Böses dabei denkt.

Die Ampel hat die Mehrheit, um ihr Werk – wie geplant – Ende dieser Woche durch den Bundestag zu bringen. Doch damit ist das Spiel noch nicht zu Ende. Es geht mit Sicherheit in die Verlängerung – vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe. Mit der Linken und der CSU als Kläger – nicht Seit‘ an Seit‘ und dennoch mit demselben Ziel.

(Veröffentlicht auf www.cicero.de am 14. März 2023)


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