01.03.2023

Die Verbindung von Intelligenz und Skrupellosigkeit macht Wagenknecht so gefährlich

Stellen wir uns einmal vor, Sahra Wagenknecht wäre Bundeskanzlerin und verfügte mit ihrer Partei über die absolute Mehrheit. Dann würde aus der Bundesrepublik nicht über Nacht eine zweite DDR, aber doch ein ganz anderes Land.

Die wichtigsten Wirtschaftszweige wären in staatlicher Hand, die Steuersätze stiegen kräftig und die Sozialausgaben auch, Deutschland würde die Nato verlassen, jede Unterstützung für Israel einstellen und orientierte sich sicherheitspolitisch mehr an Russland als an den USA. Wo das enden würde, lässt sich unschwer vorhersagen. Deutschland stiege wirtschaftlich in die zweite Liga ab und wäre außenpolitisch in Europa isoliert.

Dazu wird es nie kommen. Wagenknecht, bekanntester und fernsehtauglichster Kopf der zur Fünf-Prozent-Partei geschrumpften Linken, wird niemals Kanzlerin. Ebenso wenig wird eine von ihr geführte Partei bei Wahlen jemals zur stärksten Kraft. Die 53-Jährige ist auch viel zu klug, um von einer Kanzlerschaft zu träumen.

Wagenknecht sorgte in PDS und Linkspartei stets für Ärger

Als Ideengeberin oder Gestalterin ist sie in ihrer nunmehr dreißigjährigen politischen Karriere – sie gehörte schon 1991 dem Bundesvorstand der in PDS umbenannten SED an – nie aufgefallen. Wagenknecht verkörpert eher den Typus des Aufrührers und des Spoilers. In der von unzähligen Grabenkämpfen gekennzeichneten Geschichte ihrer Partei war sie immer mittendrin im Getümmel – und zwar stets auf der Seite der Rebellen.

Die in der DDR aufgewachsene und im Frühjahr 1989 noch schnell in die SED eingetretene Wagenknecht bringt alles mit, was erfolgreiche Politiker auszeichnet oder auszeichnen sollte. Sie hat einen Universitätsabschluss in Philosophie und einen Doktortitel in Volkswirtschaft. Innerhalb der politischen Klasse der Bundesrepublik zählt sie zu den Intellektuellen, was ihre beeindruckende Liste an Veröffentlichungen belegt. Sie ist eloquent, schlagfertig und faktensicher. Zudem ist sie eine elegante Erscheinung mit einer sonoren Stimme. Das Einzige, was ihr fehlt, ist Humor. Falls sie jemals lacht, dann nicht öffentlich.

Kompetent, aber nicht sehr sympathisch

Wagenknecht sammelt bei den Talkshow-Zuschauern sicher mehr Punkte in der Kategorie Kompetenz als in Bezug auf Sympathie. Laut „Politbarometer“ gehört die Linke zu den „Top ten“ der deutschen Politiker. Allerdings wird sie überwiegend negativ bewertet, rangiert aktuell auf Platz neun. Nur die AfD-Vorsitzende Alice Weidel schneidet noch schlechter ab.

Doch schafft es Wagenknecht im Gegensatz zu anderen führenden Politikern der Linkspartei immerhin unter die ersten zehn. Bessere Werte als sie hatte aus der Linken nur Gregor Gysi, als er noch die unbestrittene Nummer eins war.

Wagenknecht, lange Zeit Mitglied der vom Verfassungsschutz beobachteten „Kommunistischen Plattform“ innerhalb der Linken, lag vielfach nicht auf der Parteilinie. So zum Beispiel, als sie den Stalinismus relativierte oder die DDR als das „friedfertigste und menschenfreundlichste Gemeinwesen“, das die Deutschen jemals geschaffen hätten, pries.

In der Flüchtlingskrise 2015 nahm sie Positionen ein, für die sie auf AfD-Versammlungen viel Beifall bekommen hätte. Im Gegensatz zu ihrer Partei war sie gegen offene Grenzen, weil die Zuwanderer bereit wären, zu Dumpinglöhnen zu arbeiten. Nach den sexuellen Übergriffen in der Silvesternacht 2015 in Köln war sie – anders als die Linke – für klare Kante: „Wer sein Gastrecht missbraucht, der hat sein Gastrecht eben auch verwirkt.“ Da stand sie den Merkel-Kritikern in der CDU/CSU und der AfD näher als ihren eigenen Genossen.

Schwindender Einfluss bei den eigenen Genossen

Pikanterweise provoziert die intellektuelle Einzelkämpferin ihre Parteigenossen dann besonders, wenn es um die kleinen Leute geht. Das war bei ihrem Nein zur unkontrollierten Zuwanderung der Fall, das wird auch bei ihrer strikten Ablehnung der Identitätspolitik deutlich. Ihr Bestseller „Die Selbstgerechten“ war eine Anklageschrift gegen die „Lifestyle-Linken“, die sich mehr mit „woken“ Themen beschäftigten als mit der Umverteilung zu Gunsten der unteren Schichten. Auch dabei fand sie großen Anklang in konservativen Kreisen wie am ganz rechten Rand.

So erfolgreich Wagenknecht als Dauer-Talkshowgast und als Buchautorin ist, politisch hat sie in der eigenen Partei sehr an Einfluss verloren. Ihre 2018 gestartete Sammlungsbewegung „Aufstehen“, mit der sie die eigene Partei in ihrem Sinne auf Trab bringen wollte, erwies sich schnell als Flop. Ihr Rückzug vom Fraktionsvorsitz im Jahr 2019 – mit gesundheitlichen Problemen begründet – war die logische Folge.

Doch Wagenknecht scheint längst mit der Linkspartei abgeschlossen zu haben. Sie und ihre Mitstreiter denken seit einiger Zeit darüber nach, mit einer eigenen Liste bei der Europawahl 2024 anzutreten. Wagenknecht selbst hat das nie bestätigt.

Putins Krieg soll als Sprungbrett dienen

Bei „Hart aber fair“ am Montag rutschte ihr in Bezug auf die Linke jedoch ein verräterischer Satz heraus: „Die Partei, der ich noch angehöre“. So redet nur, wer – bildlich gesprochen – bereits auf gepackten Koffern sitzt.

Ausgerechnet Putins Überfall auf die Ukraine bietet Wagenknecht die große Chance zu einem neuen, eigenen Aufbruch. Weil selbst ihre eigene Partei – ungeachtet vieler Sympathien für Moskau – nicht leugnen kann, wer in diesem Krieg Täter und wer Opfer ist, will sie alle sammeln, die bei diesem mörderischen Treiben Putins „Deutschland zuerst“ rufen. Da hat sie mit Donald Trump mehr gemein, als ihr vielleicht bewusst ist.

Ihre Initiative „Aufstand für den Frieden“ brachte am Samstag eine sehr überschaubare Menge an „Friedensfreunden“ von ganz links bis ganz rechts auf die Beine. Doch ist das in Wirklichkeit eben nicht eine neue Friedensbewegung, sondern der Kern einer Wagenknecht-Bewegung, einer neuen, sich pazifistisch gebenden Partei. Ob das allen bewusst ist, die ihr zurzeit folgen, darf bezweifelt werden.

Wagenknecht setzt darauf, dass es vielen Deutschen völlig gleichgültig ist, wo Putin überall zündelt, ob er der eigenen Bevölkerung elementare Menschenrechte versagt, ob die Ukrainer ihr Schicksal selbst bestimmen können oder nicht. Sie geht davon aus, dass die Deutschen, jedenfalls sehr viele, in erster Linie in Ruhe gelassen und nicht mit weltpolitischen Verwerfungen behelligt werden wollen.

Geschickt und demagogisch

Vom Krieg in Ruhe gelassen werden, heißt: Keine Sanktionen gegenüber Russland, die unter anderem die Energiepreise in die Höhe treiben. Keine Waffen für die Ukraine, damit endlich Ruhe, und sei es eine Friedhofsruhe, einkehren kann. Nichts, was deutsche Befindlichkeiten stören könnte.

Sollte es so kommen, wie Wagenknecht sich das wünscht, könnte sich Deutschland – unbeeinflusst von außenpolitischen Entwicklungen – Wagenknechts Lieblingsprojekt widmen, nämlich der Überwindung des Kapitalismus. Dass sie sich bei mancher, auch berechtigter Kritik an den wirtschaftlichen Gegebenheiten gern auf Ludwig Erhard beruft, zeugt von ihrer geschickten Argumentationsweise. Anders ausgedrückt: von ihrem demagogischen Talent.

Wagenknecht kommt bei den üblichen Verdächtigen im linken Milieu ebenso an wie bei den Putin-Freunden am anderen Ende des politischen Spektrums. Ihr „Manifest für den Frieden“ ist bisher von rund 700.000 Menschen unterschrieben worden sein. Offenbar erreicht sie auch viele Menschen, die keineswegs radikal sind, die aber schlichtweg Angst vor einem dritten Weltkrieg haben.

Wagenknecht beruft sich gern auf Fakten, aber nur selektiv

Nun ist es nicht sehr wahrscheinlich, dass Russlands Armee jetzt Nato-Länder angreift, wenn sie noch nicht einmal die Ukraine im Handstreich einnehmen konnte. Dennoch fällt Wagenknechts kühl kalkuliertes Spiel mit der Angst vor einem Atomkrieg hierzulande leichter auf fruchtbaren Boden als in anderen Ländern. „Lieber rot als tot“ war nicht von ungefähr der Schlachtruf der deutschen Friedenbewegten in den 1960er- und 1970er-Jahren.

Verhandlungen statt Waffenlieferungen lautet Wagenknechts Mantra. Das klingt in vielen Ohren vernünftig, auch wenn ein Kreml-Sprecher gerade wieder Verhandlungen ausgeschlossen hat. Dagegen beharrt Wagenknecht auf der Behauptung, die von der Türkei initiierten Waffenstillstandsverhandlungen seien von der Ukraine abgebrochen worden. Die kurz zuvor bekanntgewordenen Gräueltaten russischer Soldaten erwähnt sie in diesem Zusammenhang nicht. Das ist typisch für Wagenknechts Argumentation: Sie beruft sich gern auf Fakten, die aber häufig unvollständig sind.

Wie immer man zu Wagenknechts politischen Positionen stehen mag: Auch ihren Anhängern aus bürgerlichen Kreisen müsste eigentlich auffallen, dass Demokratie und Menschenrechte in ihren Reden und Statements so gut wie keine Rolle spielen. „Mehr Demokratie wagen“, das käme ihr nie über die Lippen. Dass es in der Ukraine auch darum geht, eine freiheitliche Gesellschaft und eine parlamentarische Demokratie zu verteidigen, interessiert sie nicht. Dass die westlichen Demokratien angesichts der „Zeitenwende“ wieder eng zusammengerückt sind, dürfte sie eher bedauern als begrüßen.

Politik außerhalb des Parlaments

Das alles macht Wagenknecht besonders gefährlich: Sie hält wenig von demokratischen Prinzipien, wahrscheinlich verachtet sie diese sogar. Innerhalb der eigenen Partei waren ihr Mehrheitsbeschlüsse stets gleichgültig; stets zählt nur ihre eigene Meinung. Wagenknecht erwartet wie alle autoritär gesinnten Politiker strikte Gefolgschaft. Da ähnelt sie ihrem Mann Oskar Lafontaine. Der warf 1999 den SPD-Vorsitz und sein Ministeramt von jetzt auf nachher weg, weil Kanzler Schröder und die übrigen SPD-Minister partout nicht nach seiner Pfeife tanzen wollten.

Wagenknecht ist ein Phänomen. Sie macht Politik außerhalb der parlamentarischen Strukturen, unterstützt von einer rot-braun gesprenkelten Querfront. Bei der Gewinnung von Gefolgsleuten kennt sie keine Skrupel. Ihr kommt dabei zugute, dass sie von vielen Medien gehätschelt wird, die sie öfter zu Wort kommen lassen als manchen Partei- oder Fraktionsvorsitzenden. Mit ihrer neuen Partei kann sie die Parteienlandschaft aufmischen und Mehrheitsbildungen noch mehr erschweren.

Ihr Handikap besteht freilich in ihrer Abneigung gegen die in der Politik unvermeidbare Gremienarbeit. Selbst als Co-Fraktionsvorsitzende neben Dietmar Bartsch (2015 – 2019) fiel sie häufig durch Abwesenheit auf. Außerhalb von Sitzungswochen taucht sie meistens im Saarland ab, wo sie zusammen mit ihrem Mann wohnt. Wenn sie zwischen einem TV-Studio und einem Sitzungszimmer zu wählen hat, zieht sie das Scheinwerferlicht vor. Dass sie ihr Bundestagsmandat und die daraus resultierenden Pflichten nicht ernst nimmt, ist noch eine zurückhaltende Beschreibung.

Gefährliche Mischung: Machtbesessenheit, Intelligenz und Skrupellosigkeit

Gleichwohl ist dieser Frau zuzutrauen, Menschen hinter sich zu versammeln, die schlichtweg unzufrieden sind mit der Politik der Etablierten. Denn sie spricht viele an, ganz linke wie ganz rechte Bürger, wirtschaftlich abgehängte wie durchaus situierte. Zudem baut sie gezielt auf den grassierenden Antiamerikanismus, auf den von links wie auf den von rechts; Letzterer reicht bis weit in die bürgerliche Mitte.

Wagenknecht ist die beste und wirkungsvollste Unterstützerin von Putins Politik, sich möglichst viele ehemalige GUS-Staaten in sein Reich einzuverleiben. Ihr ist zuzutrauen, mit dem geschickten Schüren von Ängsten die Zustimmung der Mehrheit zur Ukraine-Politik der Regierung zu schwächen oder zu untergraben. Was wiederum gravierende Folgen für Deutschlands Stellung in Europa und in der Nato hätte.

Nein, ins Bundeskanzleramt wird Sahra Wagenknecht niemals einziehen. Dafür sind die Deutschen in ihrer Mehrheit zu vernünftig. Doch hat sie das Potential, mit ihrer neuen Partei die Parteienlandschaft aufzumischen, Mehrheitsbildungen noch mehr zu erschweren und die ohnehin verbreitete Politik- und Parteienverdrossenheit zu schüren.

Sahra Wagenknecht ist „machtbesessen“, um ein Wort des früheren Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker (1984 – 1994) aufzugreifen. Diese Machtbesessenheit, gepaart mit Intelligenz und Skrupellosigkeit, machen sie zur gefährlichsten Politikerin Deutschlands.

(Veröffentlicht auf www.focus.de am 1. März 2023)


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