16.01.2022

Der „Queer-Beauftragte“ ist Teil der gesellschaftspolitischen Wende

Es ist keine Überraschung, dass die rot-grün-gelbe Koalition nicht nur in der Klimapolitik neue Akzente setzen will. SPD, Grüne und FDP wollen in der Gesellschaftspolitik ebenfalls „mehr Fortschritt wagen“. So gibt es jetzt erstmals einen „Beauftragten der Bundesregierung für die Akzeptanz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt“. Ob das in breiten Kreisen der Bevölkerung als Fortschritt gesehen wird? Da sind Zweifel erlaubt. Nicht wenige Menschen sind der Meinung, dass die Politik sich zu sehr um Minderheiten aller Art kümmert und zu wenig um „Otto Normalverbraucher“.

Der erste „Queer-Beauftragte“ der Bundesregierung ist Sven Lehmann. Der in Köln direkt in den Bundestag gewählte Grünen-Politiker ist zugleich Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesfamilienministerium. Seine Berufung ist bei Interessenverbänden der Lesben, Schwulen und Transgender-Personen mit viel Beifall aufgenommen worden.

Hocherfreut hat sich zudem sein Parteifreund Volker Beck geäußert. Beck hatte sich in seiner Zeit als Bundestagsabgeordneter (1994 – 2017) so vehement wie kein zweiter für die politische und gesetzliche Anerkennung sexueller Vielfalt eingesetzt. Nun erhofft er sich von diesem Schritt der Ampel sogar ein Signal für ganz Europa, „dass Schwule und Lesben und sexuelle Minderheiten als gleichberechtigte Bürgerinnen und Bürger gesehen werden".

„LSBQ*T“-Community“ entspricht acht Prozent der Bevölkerung

Die Grünen haben sich schon immer für sexuelle Minderheiten engagiert. Die Freien Demokraten stimmten bei diesem Thema – ungeachtet aller sonstigen Unterschiede – in vielen Punkten mit den Grünen überein. Auch die Sozialdemokraten haben sich längst grünen Positionen angenähert. Die Ampelparteien eint jedoch nicht nur das Eintreten gegen Diskriminierungen jeder Art. Die Koalitionäre haben zweifellos auch strategische Aspekte im Auge. Die „LSBQ*T“-Community“ (lesbisch, schwul, bisexuell, queer und transgender) ist vor allem in den Großstädten politisch aktiv, lautstark, medial gut vernetzt und einflussreich.

Die Größe dieser Wählergruppe darf nicht unterschätzt werden. Der Berliner CDU-Abgeordnete Thomas Heilmann schrieb in einer Analyse zur Wahlniederlage der Union mit leicht verzweifeltem Unterton, „die Queer-Community umfasst je nach Umfrage in Deutschland etwa 8 Prozent der Bevölkerung, die der regelmäßigen Kirchgänger gut 1 Prozent.“ Ein Hinweis, dass die Union sich stärker um diese Wähler kümmern müsste. Die Satzungskommission der CDU hat bereits vor einiger Zeit vorgeschlagen, die „Lesben und Schwulen in der Union (LSU)“ als Sonderorganisation der Partei anzuerkennen. Dieses Lesben- und Schwulen-Netzwerk stünde dann parteiintern auf einer Stufe mit dem Ring Christlich-Demokratischer Studenten (RCDS).

70 Millionen Euro für Aktionsplan gegen Homo- und Transphobie

Die Berufung des „Queer-Beauftragten“ sorgte in den sogenannten sozialen Medien für viel Häme und auch hasserfüllte Kommentare. Ob das Land keine anderen Probleme habe, wurde vielfach gespottet. Vergleichsweise zivilisiert reagierte die Bundestagsfraktion der AfD. „Die Absurdität grünen Gender-Wahns erreicht mit der Ernennung eines sogenannten Queer-Beauftragten einen neuen traurigen Höhepunkt", so Fraktionsvize Beatrix von Storch. Den von Lehmann angekündigten Nationalen Aktionsplan gegen Homo- und Transphobie werde ihre Partei "mit aller Entschiedenheit bekämpfen".

Für diesen Aktionsplan will die Bundesregierung jährlich 70 Millionen Euro bereitstellen. Vor allem durch Aufklärungsarbeit sollen Vorurteile gegen sexuelle Minderheiten abgebaut und der laut Lehmann „bis ins Bildungsbürgertum reichende Queerfeindlichkeit“ entgegengewirkt werden. Ob mehr Aufklärung jedoch viele Arbeitgeber bewegen kann, beispielsweise mehr Transpersonen einzustellen, bleibt offen. Gerade bei der Besetzung von Stellen mit Kundenkontakt dürfte es auf Seiten der Unternehmen Vorbehalte geben.

Lehmanns vorrangiges Ziel ist die Abschaffung des Transsexuellengesetzes, was bisher an der CDU/CSU gescheitert ist. Nach der geltenden Rechtslage muss jeder, der in seinem Pass die Angabe des Geschlechts ändern will, zwei psychiatrische Gutachten einholen. Dies betrachtet die Queer-Community als diskriminierend. Künftig soll zur amtlichen Änderung des Geschlechts eine einfache Erklärung gegenüber dem Standesamt reichen. Die Grünen wollen sogar, dass schon Jugendliche ab 14 Jahren den Geschlechtseintrag im Personalausweis ändern lassen können. Lehmann hält Vierzehnjährige für mündig genug, diese Entscheidung selbständig zu treffen.

Symbol für „Fortschrittlichkeit“

Regierungsbeauftragte sind in gewisser Weise Lobbyisten innerhalb des Regierungsapparats. Ob der neue Titel Lehmann hilft, für sexuelle Minderheiten mehr zu erreichen als er das „nur“ als Parlamentarischer Staatssekretär im Familienministerium könnte, ist fraglich. Aber die Schaffung dieser Position hat eben für die betroffenen Bürger eine starke symbolische Bedeutung. So wie es für die Kulturschaffenden, den Mittelstand oder die maritime Wirtschaft wichtig ist, dass sich jemand um ihre speziellen Belange kümmert. Messbar sind die Auswirkungen der Arbeit dieser Beauftragten meistens nicht.

Die neue Position für die Akzeptanz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt fügt sich nahtlos ein in andere gesellschaftspolitische Initiativen der Ampel-Koalition. Ihnen ist gemein, dass sie sich relativ schnell umsetzen lassen und kein oder nicht viel Geld kosten. In jedem Fall aber können SPD, Grüne und FDP so ihre Fortschrittlichkeit demonstrieren und zugleich versuchen, der CDU/CSU den Stempel der Rückständigkeit aufzudrücken.

Im Rahmen der geplanten gesellschaftspolitischen Wende wird die Institution Ehe nicht abgeschafft, aber faktisch durch die „Verantwortungsgemeinschaft“ ersetzt. „Jenseits von Liebesbeziehungen oder der Ehe“, wie es im Koalitionsvertrag heißt, können in solchen Verantwortungsgemeinschaften „zwei oder mehr“ volljährige Personen „rechtlich füreinander Verantwortung übernehmen“. Die Übertragung der Elternrechte auf bis zu vier Personen soll ebenso Realität werden wie die Senkung des Wahlalters auf 16 Jahre oder die Anerkennung von zwei Müttern bei einem in einer Ehe von zwei Frauen geborenen Kind.

Der „Queerbeauftragte“ ist Teil dieser Fortschritts-Politik – wenn auch ein besonders auffälliger. Man muss kein Prophet sein, um vorherzusagen, dass Lehmann und seine Arbeit „draußen im Lande“ nicht nur Begeisterung auslösen werden.

(Veröffentlicht auf www.focus.de am 14. Januar 2022)


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