21.09.2021

Wahlkampftaktisches Schlingern

Kann auch die zweitstärkste Partei den Kanzler stellen? Selbstverständlich kann sie das. Denn letztlich kommt es nicht nur auf das Wahlergebnis an. Den Ausschlag gibt, welche Fraktion einen oder mehrere Koalitionspartner findet, mit denen sie auf die absolute Mehrheit der Sitze, die sogenannte Kanzlermehrheit, kommt.

Der stellvertretende CDU-Vorsitzende und hessische Ministerpräsident Volker Bouffier hat also vollkommen recht: Es wäre „albern“, den Anspruch der stärksten Kraft mit einem „moralischen Anspruch“ auf die Kanzlerschaft zu verbinden. Was Bouffier vorschwebt ist klar: Falls die CDU/CSU zusammen mit den Grünen und der FDP ein Jamaika-Bündnis schmieden kann, dann soll sie das tun. Ganz gleich, ob die CDU/CSU stimmenmäßig auf Platz eins liegt oder nur auf Platz zwei.

Bouffiers pragmatische Sicht

Bouffiers pragmatische und machtpolitische Sicht der Dinge, wird durch empirische Erfahrungen gestützt. Willy Brandt wurde 1969 Kanzler, obwohl die CDU/CSU stärkste Fraktion war. Dasselbe war zweimal bei Helmut Schmidt der Fall. 1976 und 1980 wählten mehr Menschen die CDU und die CSU als die SPD. Was Schmidt und der SPD an Stimmen fehlte, glich die drittplatzierte FDP aus.

Solche scheinbar verqueren Ergebnisse gab es auch schon in vielen Ländern. Das zeigte sich beispielsweise vor zehn Jahren in Baden-Württemberg. Die CDU blieb damals trotz ihrer Einbußen mit 39 Prozent die mit Abstand stärkste Kraft. Ministerpräsident wurde indes Winfried Kretschmann, dessen Grüne nur 24 Prozent erhalten hatten. Aber das reichte zusammen mit der SPD (23 Prozent) für neue Machtverhältnisse im Ländle. Da fragte niemand nach dem „moralischen Anspruch“ der CDU auf das Amt des Ministerpräsidenten.

Dobrindts fehlende Phantasie

Bouffier hat also die Logik wie die Koalitionspraxis auf seiner Seite. Doch er erntet Widerspruch im eigenen Lager. Alexander Dobrindt, der einflussreiche Vorsitzende der CSU-Landesgruppe im Bundestag, fehlt nämlich „die Phantasie“, sich eine Regierung mit der CDU/CSU als Juniorpartner vorzustellen. Dobrindts Sicht der Dinge dürfte freilich weniger einer mangelhaft ausgeprägten Vorstellungskraft als politischem Kalkül entspringen. Offensichtlich will der CSU-Politiker zwischen Union und FDP schwankende bürgerliche Wähler mit dem Schreckgespenst einer Regierung ohne Union bei der Stange halten. Seine implizite Botschaft: Falls die CDU/CSU auf Platz zwei abrutscht, kommt es unweigerlich zum Linksruck.

Mediales Trommelfeuer

Was Politikerworte sechs Tage vor der Wahl noch bewirken können, kann niemand präzise sagen. Wenn zwei Unionspolitiker sich in einer so zentralen Frage widersprechen, sorgen sie bei ihren potentiellen Wählern jedoch eher für Verwirrung als für eine Jetzt-erst-recht-Haltung. Außerdem lassen Bouffier und Dobrindt eines außer Acht: Jeder Versuch der CDU/CSU, aus der Position der zweitstärksten Fraktion heraus eine Regierung zu bilden, wäre einem heftigen medialen Trommelfeuer ausgesetzt. Die meisten Medien, allen voran ARD und ZDF, würden vor einem angeblich Wahlbetrug durch die Hintertür sprechen.

Nur begrenzt attraktiv

Die Union könnte das gegebenenfalls aushalten; sie sind medialen Gegenwind gewohnt. Die Grünen würden hingegen schnell auf die Linie ihrer publizistischen Unterstützer einschwenken. Ohnehin hat ihre Kanzlerkandidatin im jüngsten Triell zu verstehen gegeben, dass sie die CDU/CSU – im Gegensatz zur Linkspartei – auf alle Fälle in der Opposition sehen möchte. Ein mögliches Angebot der Union, mit Katrin Göring-Eckardt die erste Frau zur Bundespräsidentin zu machen, wäre für die meisten Grünen nur von begrenzter Attraktivität gegenüber der Möglichkeit zu einer kompromisslosen Klima- und rigorosen Umverteilungspolitik unter rot-grün-roten Vorzeichen.

Jenseits der unterschiedlichen wahlkampftaktischen Überlegungen von Bouffier und Dobrindt sollte aber ein Aspekt nicht übersehen werden. Eine möglicherweise von 33 auf 21 oder 22 Prozent dezimierte Union könnte ja nicht abstreiten, dass sie nach 16 Jahren in Regierungsverantwortung abgewählt worden ist. Das wäre dann eine Abwahl, kein Auftrag für eine Regierungsbildung.

(Veröffentlicht auf www.cicero.de am 20. September 2021)


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