27.02.2021

In der Merkel-CDU ist Ludwig Erhard ziemlich vergessen

Die SPD hat sich durchgesetzt: Die Amtszeit von Professor Lars Feld, dem allgemein anerkannten Vorsitzenden der „Wirtschaftsweisen“, wird nicht verlängert. Denn die Sozialdemokraten stören sich an einem Sachverständigen, der kein Blatt vor den Mund nimmt, wenn es um die Verteidigung marktwirtschaftlicher Prinzipien und die Schuldenbremse geht. In der Bundesfraktion wird der in Freiburg lehrende Ökonom gerne abschätzig als „Marktradikaler“ tituliert.

Formal gesehen hatte die CDU/CSU keine Chance, sich gegen den kleineren Koalitionspartner SPD durchzusetzen. Denn die Berufung muss vom Kabinett beschlossen werden. Dort kam sie aber erst gar nicht auf die Tagesordnung, weil Finanzminister Olaf Scholz (SPD) gegenüber Wirtschaftsminister Peter Altmeier (CDU) bereits sein Veto gegen eine Verlängerung eingelegt hatte. In der CDU war es vor allem der neue Vorsitzende Armin Laschet, der sich empörte, Scholz als „Apparatschik der SPD“ beschimpfte und dem Genossen „Arroganz und Ignoranz“ vorwarf. Dass Laschet so deutliche Worte fand, darf wohl als Nachwehen der Vorsitzendenwahl von Anfang Januar verstanden werden. Offenbar wollte der nordrhein-westfälische Ministerpräsident den Anhängern des ihm unterlegenen Friedrich Merz signalisieren: Ich bin ein ebenso überzeugter Marktwirtschaftler wie euer gescheitertes Idol.

Der „Fall Feld“ ist nicht der erste Sündenfall

Es fiel freilich auf, dass Altmeier sich gegenüber dem sozialdemokratischen Kabinettskollegen viel mehr zurückhielt als Laschet. Auch hatte die Union im Vorfeld der Entscheidung keinerlei Anstalten gemacht, der SPD die Zustimmung zu Feld abzuhandeln. Schließlich hat die CDU/CSU in der GroKo mehr als einmal Kompromissen zugestimmt, die eindeutig sozialdemokratische Handschrift tragen. Da hätte man, wenn man gewollt hätte, mit Block auf die „Wirtschaftsweisen“ durchaus auf Kompensation drängen können. Doch drängt sich der Eindruck auf, die CDU/CSU messe – abgesehen vom Wirtschaftsflügel – der ordnungspolitischen Ausrichtung des Sachverständigenrats keine allzu große Bedeutung mehr bei. Im Fall Fels zeigt sich: Die Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft werden nach der mehr als 15-jährigen Regierungszeit der CDU-Kanzlerin Angela Merkel bisweilen noch beschworen, aber immer seltener befolgt. Und Ludwig Erhard, der Vater des Wirtschaftswunders, ist außerhalb von Mittelstandsunion und Wirtschaftsrat immer seltener eine Bezugsgröße.

Es versteht sich von selbst, dass der Staat seit Ausbruch der Corona-Pandemie viel stärker als seit Jahrzehnten in die Wirtschaft eingreift, die Schuldenbremse außer Kraft setzt, den Unternehmen Risiken abnimmt und die sozialen Folgen des Lockdowns abfedert. Denn ein Staat, der – aus guten Gründen – das Wirtschaftsleben stark einschränkt, kann nicht gleichzeitig auf die Selbstheilungskräfte des Marktes vertrauen. Da muss „Vater Staat“ selbst einspringen. Das tut er großzügig, wenn auch nicht immer effizient. Doch in dieser Lage hätte auch ein Ludwig Erhard nicht das freie Spiel der Marktkräfte beschworen.

In der GroKo-Politik steckt der Geist der 1970er-Jahre

Allerdings atmeten Programm und Politik der drei Großen Koalitionen unter Merkels Führung (2005-2009, 2013-2017 und 2018-2021) mehr von der Umverteilungsmentalität der siebziger Jahre als vom Geist Ludwig Erhards. Schwarz-Rot stand und steht auch schon vor Corona für mehr staatliche Fürsorge und weniger private Vorsorge und damit für das Gegenteil Erhard‘scher Prinzipien. Die CDU/CSU hat zwar verhindert, dass die Einkommensteuer generell erhöht worden ist. Sie gab aber 2005 der SPD nach und stimmte der Einführung der Reichensteuer von 45 Prozent für Jahreseinkommen von mehr als 250.000 Euro (Ledige) zu.

Auch bei der Abschaffung des „Soli“ gab die Union klein bei. „Reiche“ von 72.000 Euro Jahreseinkommen an müssen ihn weiterhin entrichten, obwohl er zur Finanzierung des längst abgeschlossenen „Aufbau Ost“ gar nicht mehr benötigt wird. Zudem ist die Steuerquote, also der Anteil der Steuern und Zölle am Bruttoinlandsprodukt, in der Kanzlerschaft Merkel von 21 auf 24 Prozent gestiegen – der höchste Stand seit der Wiedervereinigung. Das passt nicht zu einer Partei, die ständig vor zu großen Belastungen der Wirtschaft und insbesondere des Mitteltandes warnt.

Die CDU/CSU hat sich als Koalitionspartner der SPD zunehmend sozialdemokratisiert, was die Wirtschaft- und Sozialpolitik betrifft. Ihr Wirtschaftsflügel hat das stets heftig kritisiert. Wenn es im Bundestag zum Schwur kam, wurden aus den Reihen der verbliebenen Marktwirtschaftler ein paar Gegenstimmen abgegeben, aber niemals genügend viele, um ein Gesetzesvorhaben zu Fall zu bringen. So reihte sich ein marktwirtschaftlicher Sündenfall an den anderen.

Der flächendeckende Mindestlohn hilft in den Ballungsräumen niemandem

Sündenfall 1: Der flächendeckende gesetzliche Mindestlohn. Niemand wird bestreiten, dass angesichts der sinkenden Bedeutung von Tarifverträgen das Lohndumping zugenommen hat. Dagegen hilft aber kein flächendeckender Mindestlohn. Denn die 9,50 Euro pro Stunde mögen in strukturschwachen Gegenden für einen angemessenen Lebensunterhalt ausreichen, nicht aber in prosperierenden Regionen und Ballungsräumen. Folglich müsste ein marktwirtschaftlicher Mindestlohn nach Branchen und Regionen differenziert sein. Der Einheits-Mindestlohn mag den Sozialdemokraten als politische Trophäe dienen, löst aber nicht die Probleme vieler gering bezahlter Arbeitnehmer. Die Folge: Die Zahl der Aufstocker, die trotz Mindestlohn noch von der Arbeitsagentur unterstützt werden müssen, ist nicht gesunken.

Sündenfall 2: Rente mit 63. Wer 45 Jahre lang Rentenbeiträge gezahlt hat, kann schon zwei Jahre früher in Rente gehen, und zwar ohne Abschläge. In den Genuss dieses Privilegs kommen überwiegend männliche Industriearbeiter mit ohnehin hohen Rentenansprüchen. Keine Chance haben dagegen Arbeitnehmer mit längeren Ausbildungszeiten und Frauen, die ihre Berufstätigkeit zu Gunsten der Familie unterbrochen haben. Hier wollte die SPD der Kernklientel der Industriegewerkschaften etwas Gutes tun – und die CDU hat mitgemacht.

Sündenfall 3: Mütterrente. Müttern bei der Rente einen kleinen Ausgleich dafür zu zahlen, dass ihre Renten aufgrund der Erziehungszeiten geringer ausfallen, passt durchaus ins Rentensystem. Aber diese 2018 ausgeweitete Sozialleistung müsste konsequent aus der Rentenkasse finanziert werden und nicht überwiegend vom Steuerzahler. Aber hier ging es der CDU/CSU in erster Linie um ältere Wählerinnen, nicht um eine systemgerechte Finanzierung.

Durch die Mietpreisbremse ist keine einzige Wohnung entstanden

Sündenfall 4: Mietpreisbremse. Im Wahlkampf 2017 wollte die SPD den Mietern etwas bieten, nämlich eine Bremse beim Mietenanstieg. Die CDU wollte ebenfalls sozial sein und schloss sich dieser Forderung an. Das Ergebnis: Die Vermietung von Wohnungen wird für private Investoren weniger attraktiv. Das dämpft den Neubau. Wegen oder dank der Mietpreisbremse ist jedenfalls keine einzige neue Wohnung gebaut werden. Hier wird Mangel verwaltet, statt das Angebot vergrößert – das Gegenteil von sozialer Marktwirtschaft.

Sündenfall 5: Frauenquote. „Leistung muss sich wieder lohnen,“ lautete einmal ein CDU-Slogan. Bei der Besetzung von Aufsichtsratsmandaten und Vorstandsposten ist die Union jedoch vom Leistungsprinzip abgewichen. In börsennotierten Unternehmen müssen 30 Prozent der Aufsichtsräte weiblich sein. Da heißt: Das Geschlecht wird bei einem Teil der Mandate zum entscheidenden Auswahlkriterium. Auch in den Vorständen muss künftig mindestens eine Frau vertreten sein. Ludwig Erhard würde sich im Grab umdrehen, auch deshalb, weil hier die Rechte der Eigentümer bei der Personalauswahl vom Staat willkürlich eingeschränkt werden.

Sündenfall 6: Grundrente. CDUCSU und SPD waren sich einig, dass Arbeitnehmern, die trotz langer Erwerbstätigkeit nur geringe Rentenansprüche haben, die Rente aufgestockt werden soll. Voraussetzung für diese Grundrente sollte jedoch eine Bedürftigkeitsprüfung sein; so war das im Koalitionsvertrag festgelegt. Die SPD wollte jedoch die Bezieher kleiner Renten mit der Gießkanne beglücken, unabhängig von deren Vermögensverhältnissen. Auch gab die Union nach und sich mit einer Einkommensprüfung light zufrieden. Womit das Grundprinzip der sozialen Marktwirtschaft, von Staatswegen nur denen zu helfen, die sich nicht selbst helfen können, wieder einmal aufgehoben wurde.

Apropos Sündenfälle: Ludwig Erhard hat selbst eingeräumt, im politischen Alltag könne man auch mal gezwungen sein, sich gegen den Geist der sozialen Marktwirtschaft zu versündigen. Aber, so fügte er hinzu, man müsse sich wenigstens dessen bewusst sein. Genau dieses Bewusstsein fehlt seinen Erben in der CDU völlig.

Der betreute Mensch wird zum Maß aller Dinge

Natürlich lassen sich die politischen Verhältnisse der sechziger Jahre nicht gleichsetzen mit denen von heute. Auch Ludwig Erhard würde unter den Bedingungen eines globalen Wettbewerbs vieles anders beurteilen und entscheiden. Aber für die alles andere als solide Finanzierung von Sozialleistungen hatte er schon 1957 die passende Formulierung gefunden: „Verschleierungsversuche mittels kollektiver Umverteilungsverfahren“. Das passt bestens zu den Rentengeschenken der Großen Koalition. Ebenso diese Erhard‘sche Weisheit: „Kein Staat kann seinen Bürgern mehr geben, als er ihnen vorher abgenommen hat – und das auch noch abzüglich der Kosten einer immer mehr zum Selbstzweck ausartenden Sozialbürokratie. Es gibt keine Leistungen des Staates, die sich nicht auf Verzichte des Volkes gründen“. Als Kommentar zur Politik der CDU/CSU könnte Erhard, wenn er noch lebte, sich also selbst wörtlich zitieren.

Erhard war der Überzeugung, man müsse die Menschen auch fordern. Die CDU stand ebenfalls lange Zeit für diesen Grundsatz. Den Sozialdemokraten hingegen ging es stets mehr um die Betreuung und Versorgung der Menschen. Markt, Wettbewerb und private Initiative als tragende Elemente unserer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung wurden in der Ära Merkel nicht gestärkt. Das war ganz im Sinne der SPD. Der Fall Fels kann deshalb niemanden überraschen. Die Ausbootung dieses marktwirtschaftlichen Mahners ist ein Sieg der SPD – und eine Niederlage der wenigen verbliebenen Erhardianer in der CDU.

(Veröffentlicht auf www.focus.de am 26. Februar 2021)


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