21.03.2019

Das neue Deutschland ist staatsgläubig, hypersozial und ökogläubig

Ein der deutschen Sprache mächtiger Mensch in einem fernen Land hat nichts Besseres zu tun, als ein paar Tage lang deutsche Zeitungen zu lesen und Nachrichtensendungen im Fernsehen zu verfolgen. Er hat sich mit der politischen oder wirtschaftlichen Lage der Bundesrepublik noch nie beschäftigt. Doch nach konzentriertem digitalem Medienkonsum ist er überzeugt, Deutschland verstanden zu haben. Sein Deutschland-Bild in sieben Kapiteln:

Kapitel 1: Das soziale Deutschland

Nichts scheint die Deutschen, ihre Politiker und ihre Medien mehr zu beschäftigen als die soziale Frage. Die Konjunktur schwächelt, Schlüsselbranchen wie die Automobilindustrie oder die Finanzwirtschaft müssen sich strukturell neu ausrichten, aber die Deutschen reden in erster Linie von höheren Sozialleistungen, höheren Renten, höheren Gehältern und neuen Möglichkeiten, weniger zu arbeiten.

Kapitel 2: Das staatsgläubige Deutschland

Unser Beobachter hat im digitalen Lexikon erfahren, dass Deutschland einst als Wirtschaftswunderland galt – dank seiner sozialen Marktwirtschaft. Jetzt lernt er ein Land kennen, in dem fast alle auf den Staat setzen: Der Staat soll Wohnungen bauen, private Wohnungen verstaatlichen und niedrige Mieten garantieren. Die Regierung drängt zwei große Banken zu einer Fusion, scheint besser zu wissen als die verantwortlichen Manager, wie man aus zwei Fußlahmen einen olympiareifen Athleten formen kann. Der Wirtschaftsminister will unter staatlicher Anleitung „europäische Champions“ entstehen lassen. So viel Staat war hier wohl noch nie.

Kapitel 3: Ein Land im Umwelttaumel

Wenn die Deutschen etwas tun, dann richtig. Nirgends ist die Verehrung für eine 16-Jährige, die ein umweltpolitisches „Kehret um“ predigt, so groß wie hierzulande. Schüler schwänzen Freitag für Freitag die Schule, um die Umwelt zu retten. Das Staatsoberhaupt und die Regierungschefin zollen ihnen für diesen Regelverstoß laut Beifall – und zahllose rote und grüne Politiker auch. Eine führende Grünen-Politikerin mit abgebrochenem Theologie-Studium vergleicht das Mädchen mit einem Propheten. Unser Beobachter wundert sich: Es wurden in Deutschland noch keine Straßen und Plätze nach Greta Thunberg benannt. Auch wurde sie bisher nicht zur Heiligsprechung vorgeschlagen.

Kapitel 4: Land der ausgebeuteten Frauen

Überall stößt unser Deutschland-Forscher auf die These, Frauen bekämen in Deutschland 21 Prozent weniger Lohn als Männer. Er wundert sich: Wenn das der Durchschnittswert ist, muss es ja arme Frauen geben, die 30 oder 40 Prozent weniger verdienen als Männer. Aber trotz intensiver Recherchen in allen verfügbaren Datenbänken findet er keinen einzigen Fall dokumentiert, in dem eine Frau für die identische Tätigkeit bei gleich langer Betriebszugehörigkeit und gleicher Ausbildung 21 Prozent weniger bekommt als ihr männlicher Kollege. Das wundert ihn sehr.

Kapitel 5: Land mit den meisten „Superreichen“

Unser Beobachter kann nicht ganz nachvollziehen, worum es bei der Debatte um die Abschaffung des Solidaritätsbeitrags genau geht. Aber eines fällt ihm auf: Die Gegner einer vollständigen Abschaffung sind gegen Erleichterungen für „Superreiche“. Was ihn aber wundert: dass aus der Sicht der SPD der „Superreichtum“ bei einem zu versteuernden Einkommen von 76.000 Euro im Jahr beginnt. Es überrascht ihn, dass „Reiche“ in Deutschland so arm sein sollen.

Kapitel 6: Land mit seltsamen Medien

Eine Umfrage des „Politbarometers“ im März zeigt, welche Probleme aus Sicht der Deutschen die wichtigsten sind. Die Reihenfolge: Ausländer/Flüchtlinge 33 %, Rente/Alterssicherung 18 %, Umwelt/Klima 16 %, Bildung/Schule 10 %, Soziale Gerechtigkeit 9 %, Wohnungsmarkt/Mieten 9%. Was dem Deutschland-Analysten aus der Ferne auffällt: In den Medien liest und hört und sieht relativ wenig über Probleme mit Zuwanderern und ihrer Integration. Aber umso mehr über die drohende Klimakatstrophe, die angeblich fehlende Gleichberechtigung von Mann und Frau, über „Political Correctness“ und Grabenkämpfe in den politischen Parteien. Die Notwendigkeit separater Toiletten für das „dritte Geschlecht“ wird in den Medien breiter diskutiert als die Frage, warum die Toiletten in den Schulen vielfach in einem miserablen Zustand sind. Er steht vor einem Rätsel.

Kapitel 7: Ein übelgelauntes Volk, dem es gut geht

Was den Mann aus dem fernen Land am meisten wundert: Bei fast allen internationalen Vergleichen steht Deutschland in Bezug auf Wirtschaftskraft und Lebensqualität gut da. Er kann deshalb nachvollziehen, dass es so viele Menschen aus fernen Ländern hierher zieht. Was er aber nicht verstehen kann: dass die Deutschen trotz objektiv – immer noch – guter Daten so gerne jammern und klagen.

Veröffentlicht auf www.tichyseinblick.de am 20. März 2019.


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