02.09.2017

„Merkel ist für soziale Spannungen verantwortlich“ – „Die Strukturschwäche der neuen Länder lässt sich nicht völlig beseitigen“

Marquardt: Angela Merkel wird bei ihren Wahlkampfauftritten in den neuen Bundesländern ständig ausgepfiffen. Überall schallt ihr „Hau ab“ entgegen. Sie wissen, ich bin unverdächtig, auch nur ansatzweise nostalgisch zu sein. Aber wenn die Politik der GroKo unter Kanzlerin Merkel teilweise ausgebuht wird, bin ich dabei. Die viel beschworene Einheit unseres Landes ist auch nach über 20 Jahre noch immer nicht vollendet. Die GroKo hat zum Beispiel ewig über die Rentenangleichung Ost-West diskutiert. Nach wie vor hinkt die ostdeutsche Wirtschaftskraft der westdeutschen hinterher, und es bestehen noch immer tiefe strukturelle Probleme. Die friedliche Revolution hat uns zum Glück zusammengebracht, aber insbesondere die sozialen Spannungen sind bis heute nicht überwunden. Und dass sie existieren, dafür ist auch Merkel verantwortlich. Deshalb wird sie eben ausgebuht.

Müller-Vogg: Also mal der Reihe nach. Es sind in erster Linie AfD- und Pegida-Anhänger, die auf ostdeutschen Marktplätzen herumpöbeln. Dass ausgerechnet Sie diesen Protest von ganz Rechts gut finden, überrascht mich dann doch. Mal abgesehen davon, dass ich Versuche, andere am Reden zu hindern, nicht gerade für sehr demokratisch halte. Bei den Renten hat die Große Koalition den Weg dafür geebnet, dass sie von 2025 an einheitlich berechnet werden. Gut, das hätte vielleicht schon früher kommen können. Aber eines steht auch fest: Die Rentner im Osten waren die großen Gewinner der Einheit. Sie verfügen heute über viel mehr Kaufkraft als die Rentner zu Zeiten des real existierenden Sozialismus. Oder haben Sie schon vergessen, dass die DDR alte Menschen gerne in den Westen ausreißen ließ, um ihnen keine Mini-Rente mehr zahlen müssen? Natürlich haben wir nicht überall in Deutschland gleiche Lebensverhältnisse. Aber für die Folgen von 40 Jahren sozialistischer Marx- und Murks-Wirtschaft in erster Linie Angela Merkel verantwortlich zu machen, das halte ich für eine kühne These.

Marquardt: Oh, höre ich da etwa ein Lob von Ihnen, dass die Renten ab 2025 einheitlich berechnet werden? (Lacht.) Und natürlich darf man seinen Unmut auch mal laut artikulieren, das gehört zur Demokratie. Aber dass ich angeblich Nazis gut finde, kommentiere ich an dieser Stelle nicht. Herr Müller-Vogg, ich habe weder gesagt, dass es allen ostdeutschen Rentnerinnen und Rentnern schlecht geht, noch dass Merkel Schuld an der Misswirtschaft in der DDR ist. Ich rede über die Politik der vergangenen Jahre. Und da wurde die Wirtschafts- und Innovationskraft Ostdeutschlands wenig gestärkt. Unbestritten ist natürlich, dass die Leistungskraft der neuen Bundesländer deutlich gestiegen ist, aber sie stagniert. Die sozialen Spannungen müssen überwunden und die hohe Arbeitslosigkeit, vor allem die Langzeitarbeitslosigkeit, bekämpft werden. Der niedrigeren Wirtschaftskraft des Ostens entspricht eine deutlich höhere Arbeitslosigkeit. Auch ist nur noch knapp jeder dritte Betrieb in West- und gerade einmal jeder fünfte Betrieb in Ostdeutschland tarifgebunden. Ostdeutsche Länder benötigen mehr Geld für Investitionen in Bildung, Forschung, Infrastruktur und Daseinsvorsorge. Es geht letztlich um gleichwertige Lebensverhältnisse in ganz Deutschland.

Müller-Vogg: Liebe Frau Marquardt, ich würde Ihnen niemals unterstellten, dass Sie Nazis gut finden. Ich halte auch nicht jeden AfD- oder Pegida-Anhänger, der „Merkel muss weg“ brüllt, für einen Nazi; da sind viele ehemalige Linken-Wähler darunter. Aber mich darüber zu amüsieren, dass ausgerechnet Sie diese Anti-Merkel-Proteste dieses Publikums gut finden, darf ich schon, oder? (Grinst). Reden wir lieber über das Eigentliche: Die Strukturschwäche im Osten wird sich niemals ganz beheben lassen. Es war und ist ja auch nicht möglich, das wirtschaftliche Gefälle zwischen dem prosperierenden Oberbayern und dem weniger gut dastehenden Nordosten des Freistaats zu beseitigen. Der Staat kann, wenn er aus guten Gründen keine Planwirtschaft betreibt, in erster Linie die Rahmenbedingungen in strukturschwachen Regionen verbessern, unter anderem die Infrastruktur sowie die Aus- und Weiterbildung. Für Wirtschafts- und Strukturpolitik waren in den vergangenen vier Jahren übrigens SPD-Wirtschaftsminister verantwortlich. Ich kann mich an keine große Ost-Initiative von Sigmar Gabriel oder Brigitte Zypries erinnern, die an der Kanzlerin gescheitert wäre. Aber da können Sie mir sicher auf die Sprünge helfen.

Marquardt: Nein, den Protesten dieses Publikums stimme ich nicht zu, denn das sind antidemokratische Proteste. „Merkel muss weg“ heißt bei denen ja, die Demokratie in Frage zu stellen. Die greifen berechtigten Unmut ja nur auf, um ihn gegen noch Schwächere zu instrumentalisieren. Denen sind sowohl die Menschen als auch die Lebensverhältnisse letztlich egal. Aber zum Thema: Von der Einführung des flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns konnten können vor allem viele Beschäftigte in Ostdeutschland profitieren. Im Jahr 2014 zahlten 23 Prozent der Betriebe ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern weniger als 8,50 Euro pro Stunde. Ich kann mich nicht entsinnen, dass die CDU/CSU den Mindestlohn wirklich wollte. Das war ein zäher Kampf, und viele Ausnahmen mussten gemacht werden, damit er kommen konntekann. Bei vielen anderen Themen war und ist es ähnlich. Natürlich werden wir- wird die SPD da von der Union ausgebremst. Die Kanzlerin hat ihr Versprechen gebrochen, gleichwertige Lebensverhältnisse zu schaffen. Merkel, Seehofer und Schäuble diktieren den schwachen Regionen im Osten vor allem Niedriglohnpolitik und Lohnverzicht.

Müller-Vogg: Halten wir zunächst einmal fest: Sie kennen auch keine Ost-Programme der SPD-Minister, die von der Kanzlerin abgebügelt worden wären. Beim Mindestlohn haben Sie Recht: Den wollte die SPD; die CDU/CSU hat da mitgemacht. Viel vernünftiger wären Lohnuntergrenzen Mindestlöhne nach Branchen und Regionen gewesen. Denn 8,84 Euro helfen in München oder Frankfurt nicht, in Brandenburg dagegen schon. Aber wo hat Merkel denn „gleichwertige Lebensverhältnisse“ versprochen? Diese Forderung muss niemand versprechen; die steht als Verpflichtung im Grundgesetz. Nur sind sich alle Verfassungsrechtler einig: Gleichwertig heißt nicht gleich. Gleiche Lebensverhältnisse in allen Teilen des Landes kann nämlich niemand schaffen. Steil finde ich ja Ihre These, Merkel, Seehofer und Schäuble diktierten dem Osten Niedriglohnpolitik und Lohnverzicht. Dass eine Regierung pauschal Löhne festsetzt, das gab es in Deutschland nur bis 1990 – und auch da nur im östlichen Teil. Mit den bekannten katastrophalen Folgen.

Marquardt: Das mit dem Mindestlohn haben Sie irgendwie falsch verstanden. Es ist eine Lohnuntergrenze, die nicht unterschritten werden darf, mehr darf man immer zahlen. Das ist keine pauschale Festlegung für alle. Der Lohn hat ja, wie Sie wissen, auch Einfluss auf die Rente, und von einem Job sollte man seinen Lebensunterhalt bestreiten können. Mir erschließt sich einfach nicht, warum im Jahr 27 nach der Einheit immer noch an so vielen Stellen ein Unterschied zwischen Ost und West gemacht werden muss:. nNiedrigere Löhne und somit niedrigere Renten. Wie soll da Einheit entstehen? Und natürlich setzt die Regierung nicht die Löhne fest, aber einen Pakt für gute Löhne, den will nur die SPD. Wir finden uns mit dem Niedriglohnsektor nicht ab. Wir wissen, dass das eine Gesellschaft zerreißt. Wir brauchen einen „Tarifvertrag Soziales“. Aber abschließend will ich sagen, dass wir alle ja die deutsche Einheit nicht üben konnten und dafür haben wir sie auch wieder ganz gut gemeistert. Müller-Vogg: Also ich weiß schon, wie ein Mindestlohn funktioniert. Aber Arbeitgeber, die vom Staat zu einer Anhebung auf Mindestlohn-Niveau gezwungen werden müssen, werden nicht freiwillig noch was drauflegen. Deshalb müsste der Mindestlohn in München höher sein als in Brandenburg. Was die Einheit angeht, da bin ich bei Ihnen: Sie ist eine Erfolgsgeschichte. Die Ungarn oder Polen wären zweifellos glücklich gewesen, wenn sie so wie die Ostdeutschen einen „reichen Onkel“ gehabt hätten. Nur wird es keine Regierung jemals schaffen, in Jahrzehnten gewachsene strukturelle Unterschiede zwischen verschiedenen Regionen einzuebnen, höchstens um den Preis der Nivellierung nach unten. Das kann aber niemand wollen.

Veröffentlicht auf www.cicero.de am 1. September 2017.


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