29.08.2015

Willy Brandts Metternich

Wie tritt man einem Regime gegenüber, das andere Völker so unterdrücken möchte wie die eigene Bevölkerung? Mit Härte oder Verständnis? Egon Bahr, der jetzt im Alter von 93 Jahren gestorbene außenpolitische Chefdenker der SPD, hat beides getan. Als Journalist im geteilten Naschkriegs-Berlin war er ein "kalter Krieger". Als engster Berater Willy Brandts verfolgte er später gegenüber der Sowjetunion und der DDR die Strategie des "Wandel durch Annäherung".

Für Bahr, 1922 im thüringischen Treffurt geboren, war der blutig gescheiterte Aufstands vom 17. Juni 1953 ein Schlüsselerlebnis. Da wurde ihm klar, dass Moskau jede demokratische Bewegung im eigenen Machtbereich mit Gewalt niederschlagen würde. Von da an versuchte er, mit den Sowjets ins Gespräch zu kommen. Vor allem lag ihm daran, das Leben im geteilten Deutschland zu erleichtern: für Westdeutsche und Westberliner mit Verwandten im Osten und Ostdeutsche mit Verwandten im Westen. Das Passierscheinabkommen, das an Weihnachten 1963 die ersten Besuche von Westberlinern im Ostteil ermöglichte, war ein Meilenstein. Als Chefarchitekt der Ostpolitik Brandts handelte er später die Moskauer Verträge und die Anerkennung der DDR als zweiten deutschen Staat aus. Die Gegenleistung Moskaus und Ost-Berlins: mehr deutsch-deutsche Kontakte, bessere Wirtschaftsbeziehungen, Erleichterungen im Reiseverkehr und beim Freikauf politischer Häftlinge.

Die große Zeit von "Brandts Metternich", wie der gewiefte, wie ein Geheimdiplomat agierende Bahr respektvoll genannt wurde, endete 1974 mit dem Rücktritt Brandts. Dass dieser Entspannungs-Politiker darüber stürzte, dass die DDR mit Günter Guillaume einen Top-Spion im Kanzleramt platziert hatte, hat ihn tief getroffen. Als Helmut Kohl 1982 Bundeskanzler wurde, fragte Bahr ihn, ob er weiterhin seine vielfältigen Kontakte zur DDR wie zur UdSSR nutzen sollte. Kohl sagte ja.

Bahrs Ziel war ein friedliches Nebeneinander der beiden deutschen Staaten und ein entspannte, vertrauensvolles Verhältnis zwischen dem Westen und dem Ostblock. Die Wiedervereinigung war für ihn allenfalls innerhalb eines europäischen Sicherheitssystems denkbar. So versuchte er noch im Februar 1990, Moskau zu einem Nein zur Nato-Mitgliedschaft des vereinten Landes zu bewegen. Michael Gorbatschow hörte indes mehr auf Kohl als auf Bahr, den "deutschen Nationalisten" (Henry Kissinger).

Bahr hatte die Bedeutung von Bürgerrechtlern in der DDR wie in anderen Ostblock-Staaten unterschätzt, den Zerfall der Sowjetunion nicht vorhergesehen. Er sei "blind für die Situation gewesen," räumte er später ein. Das mindert nicht seine Bedeutung als einer der wichtigen Weichensteller in der deutschen Nachkriegsgeschichte und als einen Außenpolitiker, dessen Wort Gewicht hatte - bis zu seinem Tod.

Erstveröffentlichung: SUPERillu vom 27. August 2015


» Artikel kommentieren

Kommentare



Drucken
Müller-Vogg am Mikrofon

Presse

01. November 2023 | Hauptstadt – Das Briefing

Ampel-Krise

» mehr

Buchtipp

konservativ?! Miniaturen aus Kultur, Politik und Wirtschaft

konservativ?! Miniaturen aus Kultur, Politik und Wirtschaft

» mehr

Biografie

Dr. Hugo Müller Vogg

Hugo-Müller-Vogg

» mehr