13.11.2022

Lindners Vorschlag zum Tempolimit: Kompromisse und andere Kröten

Es geht in der Politik nicht ohne Kompromisse. Das gilt insbesondere in Koalitionen. Denn keine Partei kann nach der Wahl ihr Programm eins zu eins im Koalitionsvertrag unterbringen. Der wird deshalb nach der Methode „do ut des“ ausgehandelt: Ich mache dir ein Zugeständnis, damit du mir an anderer Stelle entgegenkommst.

Die Abmachung der in Berlin regierenden rot-grün-gelben „Fortschrittskoalition“ strotzt geradezu vor solchen Abmachungen. Nur drei Beispiele: Die SPD bekam den Mindestlohn, die Grünen mehr Klimapolitik und die FDP setze „keine Steuererhöhungen“ durch. Wobei sich jeder Partner mit mindestens einer Vereinbarung sehr schwer tat.

Jetzt hat FDP-Chef Lindner einen neuen Deal vorgeschlagen: Tempo 100 auf Autobahnen bei längerer Laufzeit der Kernkraftwerke. Im Politik-Podcast „Lage der Nation sagte der Bundesfinanzminister: „Ich wäre sofort bereit zu sagen: Wir machen in Deutschland ein Tempolimit, wenn die Kernkraftwerke länger laufen.“

Da muss mal zwei Mal hinhören. Wenn es nämlich eine Partei und einen Politiker gibt, die am Slogan „Freie Fahrt für freie Bürger“ unverdrossener festhalten als selbst der ADAC, dann der Autofan Lindner und seine Freien Demokraten. Selbst einige Autobosse reden über das Tempo-Limit so, als hätten sie sich auf einem Wochenendseminar der Grünen oder bei einer Versammlung der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD) erleuchten lassen.

An einer unbegrenzten Verlängerung würde sich die Öko-Partei verschlucken Nun gut, wir leben in besonders schwierigen Zeiten. Da sind alle zu Abstrichen aufgefordert. Lindner macht mehr Schulden, als er einem schwarzen oder roten Finanzminister jemals hätte durchgehen lassen. Und sind wir nicht auf die Kernkraft angewiesen, wenn in der Energiekrise nicht leichtfertig die Versorgung der Bevölkerung wie der Wirtschaft gefährdet werden soll? Kann man da nicht das Gaspedal etwas weniger durchdrücken, selbst wenn man am Steuer eines Porsche sitzt?

Lindner hielt die Tempolimitdiskussion noch vor kurzem für „blödsinnig“. Aber was schert ihn sein „Geschwätz von gestern“, wenn neue Herausforderungen neue Antworten erfordern? Nur hat Lindner - bewusst - übersehen, dass ein guter Kompromiss beiden Seiten ein vergleichbares Opfer abverlangt. Genau das bietet er aber nicht an.

Die Grünen mussten schon die Kröte „Laufzeitverlängerung bis zum 15. April“ schlucken. An einer unbegrenzten Verlängerung des Betriebs der letzten drei AKWs würde sich die Öko-Partei indes verschlucken. Denn nichts hat die durchaus unterschiedlichen Strömungen in der Partei bisher so fest zusammengehalten, wie die grundsätzliche, ja geradezu fanatische Ablehnung des Atomstroms. Davon abzurücken, wäre die grüne Basis allenfalls bereit, wenn in Deutschland tatsächlich die Lichter ausgingen und die Menschen die Grünen dafür verantwortlich machten. Und selbst dann wäre das nicht sicher.

Weder die FDP noch die Grünen denken an Selbstmord

Lindners „Angebot“ an den Koalitionspartner ist folglich kein ernsthafter Vorschlag, sondern ein vergifteter. Das Nein der Grünen hat er bereits eingepreist. Was den Freien Demokraten die Chance gibt, sich gegenüber dem ungeliebten Koalitionspartner als Stimme der Vernunft zu präsentieren - und als Gegengewicht zu den verbohrten grünen Ideologen. Nun ja, die grün-gelbe Selfie-Seligkeit von einst ist wohl bereits längst im Keller des Bonner „Haus der Geschichte“ endgelagert.

Theoretisch könnten die Grünen ihrerseits einen Kompromiss vorschlagen, der ebenso an einen Kuhhandel erinnert: Laufzeitverlängerung gegen kräftige Steuererhöhungen bei den „Reichen“. Dabei könnten sie sich sogar auf die „Wirtschaftsweisen“ berufen, die beides vorschlagen. Wobei die Damen und Herren Professores eine gewisse Weltferne demonstrierten: Beide Vorschläge sind eine Aufforderung zum politischen Selbstmord, für die Grünen wie für die FDP.

Nein, suizidgefährdet sind die Grünen ebenso wenig wie die Freien Demokraten. Deshalb dürfen wir auf der Autobahn auch weiterhin schneller als 100 km fahren, wenn wir nicht gerade im Stau sehen - also am besten nachts zwischen 3 und 4 Uhr. Ebenso werden wir weiterhin klimaschädliche Kohle verfeuern und Atomstrom aus anderen Ländern mit nicht allzu sicheren Kraftwerken importieren, um über den Winter zu kommen.

Da kann man nur - je nach Grundüberzeugung - Daumen drücken oder beten, dass das gut geht. Falls wir aber demnächst im Dunklen sitzen oder im Kalten, können wir uns an dem Gedanken erwärmen, dass „Tempolimit gegen Laufzeitverlängerung“ eigentlich kein schlechter Tausch gewesen wäre - nicht für die Grünen, „nur“ für das Land.

(Veröffentlicht auf www.cicero.de am 11. November 2022)


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